Gastbeitrag Faktencheck Artenvielfalt: Basiswerk für Biodiversität in Deutschland wurde in Berlin vorgestellt
Der vom BMBF geförderte Faktencheck Artenvielfalt zeigt erstmals, wie es um die biologische Vielfalt in Deutschland tatsächlich steht. In Berlin wurde das umfassende wissenschaftliche Referenzwerk vor wenigen Wochen vor über 100 Teilnehmenden vor Ort und hunderten Interessierten im Livestream vorgestellt.
Gastbeitrag von Dr. Julian Taffner und Nadine Leichter, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Wissen ist die Voraussetzung, um die biologische Vielfalt effektiv schützen zu können. Zwar wird in kaum einem Land so viel zur Biodiversität geforscht wie in Deutschland. Doch die Ergebnisse wurden bislang noch nicht zusammengeführt, die Daten waren lückenhaft oder nicht vergleichbar. Im Faktencheck Artenvielfalt haben nun erstmals rund 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von bundesweit 75 Institutionen über 6000 Publikationen ausgewertet und in einer eigens dafür entwickelten Datenbank zusammengeführt. Um langfristige Entwicklungen zu erkennen, haben sie einen bisher noch nicht dagewesenen Datensatz von rund 15.000 Trends aus knapp 6200 Zeitreihen erstellt und analysiert. „Der Faktencheck Artenvielfalt ist weltweit eines der ersten Beispiele, wie große internationale Berichte wie die globalen und regionalen Assessments des Weltbiodiversitätsrates IPBES auf einen nationalen Kontext zugeschnitten aussehen können; mit dem Ziel, Handlungsoptionen für die konkrete nationale und subnationale Politik aufzuzeigen und zu entwickeln“, erklärt Christian Wirth, Professor an der Universität Leipzig und Mitherausgeber des Faktencheck Artenvielfalt.
In einem Grußwort auf der feierlichen Vorstellung des Berichts in Berlin fand Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger eindringliche Worte: „Wir dürfen nicht an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen. Einen Planeten B haben wir nicht.“ „Der Erhalt der Biodiversität sichert unser Wohlergehen, aber auch das Wirtschaften. Schützen wir die biologische Vielfalt, schützen wir also uns selbst“, mahnt auch Volker Mosbrugger, Sprecher der Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA) des BMBF.
Die Ergebnisse des Faktenchecks bestätigen die globalen Trends des IPBES-Berichts auch für Deutschland. Insgesamt sind 60 Prozent der 93 untersuchten Lebensraumtypen in einem unzureichenden oder schlechten Zustand. Am schlechtesten steht es um ehemals artenreiche Äcker und Grünland, Moore, Moorwälder, Sümpfe und Quellen. Der Faktencheck stellt nur wenige positive Entwicklungen fest, wie beispielsweise in Laubwäldern, doch diese werden akut vom Klimawandel bedroht.
Der Faktencheck Artenvielfalt identifiziert gravierende Wissenslücken. So wurden von den 72.000 bekannten in Deutschland heimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten bislang erst 40 Prozent auf die Gefährdung der Population hin untersucht. Von diesen Arten ist fast ein Drittel bestandsgefährdet. Die Gefährdung nimmt zu bei Arten des Agrar- und Offenlandes und in anderen, vor allem artenreichen Gruppen wie Insekten, Weichtieren oder Pflanzen. Über die Bodenbiodiversität und urbane Lebensräume ist dabei am wenigsten bekannt, zeigt die Untersuchung. Wo die Datenlage ausreichend ist, ist sie nur schwer zugänglich oder schlicht nicht einheitlich, denn oft stammen die Daten von ehrenamtlich Tätigen. Die Heterogenität der Daten erschwert die wissenschaftliche Auswertung zusätzlich.
Klar belegbar ist, dass der Verlust von Lebensräumen und die Intensivierung der Nutzung von Kulturlandschaften den stärksten negativen Effekt auf die biologische Vielfalt haben, auch erste Auswirkungen des Klimawandels werden sichtbar. Die Intensivierung der Landwirtschaft hat negative Effekte in fast allen Lebensräumen, nicht nur im Agrar- und Offenland, und bietet damit den größten Hebel für biodiversitätsschützende Ansätze. Der Faktencheck zeigt auch positive Entwicklungen einiger Artengruppen und Lebensräume, zum Beispiel durch die Verbesserung der Wasserqualität unserer Flüsse und die Förderung natürlicher Strukturelemente in Wäldern und in der Agrarlandschaft.
Rechtliche und förderpolitische Instrumente der Naturschutzpolitik seien oft unzureichend umgesetzt oder vollzogen, etwa durch eine fehlende Abstimmung mit anderen Nutzungsinteressen, kritisieren Autorinnen und Autoren des Faktenchecks. Förderungen knüpften oft an die reine Durchführung biodiversitätsfördernder Maßnahmen an, dagegen versprächen erfolgsbasierte finanzielle Anreize einen größeren positiven Einfluss.
Biologisch vielfältige Ökosysteme sind leistungsfähiger und stabiler. Sie versorgen Menschen mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen, sie halten die Nährstoffkreisläufe aufrecht, schützen das Klima, und halten das Wasser in der Landschaft. „Der Erhalt der Biodiversität sichert unser Wohlergehen, aber auch das Wirtschaften. Schützen wir die biologische Vielfalt, schützen wir also uns selbst“, erklärt Volker Mosbrugger. „Mit dem Faktencheck Artenvielfalt ist ein höchst beeindruckendes Referenz- und Nachschlagewerk entstanden, das die wissenschaftliche Basis legt, um praxisnahe, wirksame Maßnahmen zum Biodiversitätserhalt in Deutschland zu ergreifen“, führt Mosbrugger weiter aus.
Josef Settele, Leiter des Departments Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), hat bereits zentrale Rollen bei IPCC und IPBES eingenommen. Als Mitherausgeber von Faktencheck Artenvielfalt erklärte er, dass es zwar bereits einzelne nationale Umsetzungen der IPBES-Berichte gebe, Deutschland aber dennoch eines von bislang maximal zehn Ländern sei und „insoweit auch weltweit führend“.
Der wissenschaftliche Bericht „Faktencheck Artenvielfalt. Bestandsaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland“ ist am 01.10.2024 im oekom-Verlag erschienen und steht online open access zum Download bereit. Er wird flankiert von einer Zusammenfassung für die gesellschaftliche Entscheidungsfindung und einer umfangreichen Datenbank.
Weitere Informationen zum Faktencheck
Publikation
Faktencheck Artenvielfalt. Bestandsaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland.
Christian Wirth, Helge Bruelheide, Nina Farwig, Jori Maylin Marx, Josef Settele (Hrsg.), oekom-Verlag, 2024.
ISBN: 978-3-98726-095-7
Erscheinungstermin: 01.10.2024
DOI: https://doi.org/10.14512/9783987263361
Faktencheck Artenvielfalt. Bestandsaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland. Zusammenfassung für die gesellschaftliche Entscheidungsfindung.
Christian Wirth, Helge Bruelheide, Nina Farwig, Jori Maylin Marx, Josef Settele (Hrsg.), oekom-Verlag, 2024.
ISBN: 978-3-98726-096-4
Erscheinungstermin: 01.10.2024
DOI: https://doi.org/10.14512/9783987263378
In der Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA) fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) wissenschaftliche Projekte zur Analyse der Biodiversität in Deutschland sowie zur Entwicklung und Umsetzung innovativer, effektiver Maßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der biologischen Vielfalt, so auch Faktencheck Artenvielfalt. Derzeit werden im Rahmen der FEdA 39 Projekte gefördert. Die Initiative unterstützt dabei im Sinne einer „transformativen“ Wissenschaft den zielgerichteten Austausch zwischen Forschung, Politik, Wirtschaft, Land- und Forstwirtschaft, Naturschutz und Zivilgesellschaft. Mehr Informationen unter www.feda.bio.